Vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen- Entwicklung des Kindes

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Es ist die Trias aus stabilen Beziehungen, Loslösung und Selbstentfaltung, die unsere Kinder glücklich und frei macht. Darüber sind sich bekannte Kinderärzte und -therapeuten weitgehend einig. Mit dem Wissen, wie sich Kinder seelisch gesund und sozial entwickeln, fällt es Eltern leichter, ihrem Sprössling auch in der schwierigen Phase der Selbstentfaltung verständnis- und liebevoll zu begegnen.

Auch wenn Experten wie Remo Largo, Rüdiger Posth oder Herbert Renz-Polster unterschiedliche Begriffe verwenden und sich in Details unterscheiden: In ihren grundlegenden Botschaften ähneln sie einander. Sie alle sprechen von Geborgenheit und Autonomie als jenen Bausteinen, die ein Kind zur Selbstentfaltung braucht.

DIE ERSTE SÄULE: GEBORGENHEIT

Sichere Bindungen zwischen Eltern und Kind und gelingende Beziehungen innerhalb des Familiensystems sind die emotionale Basis, die im ersten Lebensjahr gelegt wird. Durch die prompte, zuverlässige, innige und zärtliche Erfüllung seiner Bedürfnisse kann der Säugling das (Ur-)Vertrauen entwickeln, geborgen und geliebt zu sein. Deshalb sind sich die genannten Kinderärzte auch einig, dass man Säuglinge gar nicht verwöhnen kann!

Das Streben nach Geborgenheit und Liebe begleitet einen Menschen natürlich über die ersten Lebensjahre hinaus ein Leben lang, ebenso wie die immer wieder von Neuem gemachten Erlebnisse und Erfahrungen. Der Bindungsaufbau ist ein interaktiver Prozess, in dem das Kind durch sein Temperament und seine Verhaltensweisen eine aktive Rolle einnimmt.

Mutter mit Baby
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Eine sichere Bindung zur Mutter und anderen primären Bezugspersonen entsteht, wenn die Bedürfnisse des Kindes prompt und liebevoll erfüllt werden.

Primäre Bindungen

In der Frage, zu wie vielen Personen ein Säugling eine enge Beziehung aufbauen kann, gehen die Meinungen auseinander. Für Posth ist die Mutter im ersten Lebensjahr die primäre Bezugsperson, während dem Vater die wichtige Rolle zufällt, im zweiten Lebensjahr die Loslösungs- und Autonomiebestrebungen des Kindes zu unterstützen. Renz-Polster vertritt dagegen die Meinung, dass ein Säugling die Betreuung durch mehrere Personen zulässt; evolutionsbiologisch macht das durchaus Sinn, da die eine oder andere Person ausfallen kann.

Doch auch er beschreibt, dass sich die Beziehungen in Art und Qualität meist unterscheiden und das Baby eine Hauptbezugsperson hat, von der es sich in Stress-Situationen am besten beruhigen lässt. Remo Largo wiederum legt in seinem Buch "Babyjahre" die Ansicht dar, Säuglinge könnten bis zu drei enge Bezugspersonen haben. Wer auch immer "Recht" haben mag: Ein Zuviel an Liebe und Betreuung wird es für Säuglinge wohl kaum geben können.

Natürlich leben Eltern nicht im luftleeren Raum. Je sorgenfreier und harmonischer ihre Lebenssituation, desto eher wird es gelingen, zum Nachwuchs eine entspannte Beziehung aufzubauen. Doch auch wenn nicht immer alles ideal läuft, beruhigen die Experten: Kinder haben einen starken Überlebenstrieb und sind anpassungsfähig, sodass nicht immer gleich eine entwicklungspsychologische Katastrophe ins Haus steht.

Emotionales Gedächtnis

Dennoch kann es nicht schaden, sich ins Bewusstsein zu rufen, was Kinderärzte in ihren Forschungen erkannt haben: Wir kommen als emotionale Wesen auf die Welt, während unser Intellekt noch in den Kinderschuhen steckt. Beziehung sind also das Um und Auf!

Posth betont, dass Säuglinge ein Gedächtnis für (positive wie negative) emotionale Erlebnisse haben, auch wenn sie konkrete Ereignisse und Fakten noch nicht verstehen und sie sich nicht merken können. Negative Emotionen, ausgelöst etwa durch Schreien, behindern laut Studien die Synapsen-Reduktion im Gehirn, die für eine gelungene psychosoziale Entwicklung wichtig wäre. Da Säuglinge keine eigene Fähigkeit zur Stressbewältigung haben und auf die Beruhigung durch die Bezugspersonen angewiesen sind, ist exzessives Weinen lassen nie eine Option! Schreien bis zur Erschöpfung oder Resignation sollte nie als "Verarbeiten von Reizen" fehlinterpretiert werden, so Rüdiger Posth. Säuglinge können sich allenfalls in Meckerstimmung selbst durch Schnuller, Daumenlutschen oder Ähnliches beruhigen, nicht aber in wirklichen Stress-Situationen.twas zu verzichten. Der freie Wille ist somit Grundbedingung für soziales Verhalten.

DIE ZWEITE SÄULE: LOSLÖSUNG

In den zweiten sechs Lebensmonaten entwickelt sich das Gehirn von Säuglingen rasant: Ihr Gedächtnis verbessert sich und sie können erstmals Fremdes und Vertrautes erkennen. Fremdeln ist demnach gleichermaßen eine kognitive wie eine emotionale Errungenschaft, da das Baby unterscheiden kann und nicht von der Bezugsperson getrennt werden will. Das Ausmaß des Fremdelns ist nicht zuletzt eine Frage der Veranlagung. Um das Urvertrauen nicht zu gefährden, sei es, so betont Kinderarzt Posth, dennoch wichtig, einfühlsam und respektvoll mit dem fremdelnden Kind umzugehen - etwa durch langsame Eingewöhnung in die Krippe. Mit der Phase des Fremdelns fällt auch das Mobilwerden des Nachwuchses zusammen, der krabbelnd die Umwelt zu erforschen beginnt und sich damit erstmals von den Bezugspersonen entfernt. Diese Zeit ist also von der Ambivalenz geprägt, einerseits Nähe zu suchen und andererseits Neues entdecken zu wollen.

Baby krabbelt
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Vom Drang zum freien Willen

An der Schwelle zum Kleinkind entwickelt das Baby seinen eigenen Willen und erkennt sich selbst als Urheber seiner Handlungen, was beispielsweise im Herunterwerfen von Gegenständen Ausdruck findet. Solche Handlungen sind im Alter zwischen ein und eineinhalb Jahren aber nicht dazu angetan, die Eltern zu ärgern, da Kleinkinder noch über kein strategisches Denken verfügen. Ihr Wille ist anfangs dranghaft, nicht beherrschbar, ebenso wenig wie Gefühle von Wut: Dem Kind fehlt noch die Fähigkeit zur Selbstregulation. Je sicherer ein Kind gebunden ist und je klarer ihm gesellschaftliche Regeln vermittelt werden, desto eher kann sich aber mit der Zeit ein freier Wille entwickeln. "Frei" bedeutet Freiheit in der Ausführung, das heißt, man kann sich entscheiden, etwas nicht zu tun oder auf etwas zu verzichten. Der freie Wille ist somit Grundbedingung für soziales Verhalten.

Autonomiebestrebungen

Im zweiten Lebensjahr löst sich das Kleinkind durch Mobilität und Sprachentwicklung, durch seinen eigenen Willen und Neugierde zusehends von den primären Bezugspersonen. Je vertrauensvoller die Beziehung zu ihnen ist, desto leichter gelingt auch die Loslösung und desto sicherer kann sich das Kind der Welt präsentieren. Mit anderen Worten: Erst durch Loslösung kann das eigene Ich, kann die Persönlichkeit des Kindes entstehen. Loslassen müssen dabei aber auch die Eltern! So wichtig diese Entwicklung zum autonomen Ich hin auch ist, so anstrengend ist sie für Eltern. Anfangs noch „harmloses“ widerständiges Verhalten wie Nicht-wickeln-Lassen, Fortkrabbeln oder Essverweigerung steigert sich in der Trotzphase bis hin zu den berühmten Anfällen im Supermarkt.

DIE DRITTE SÄULE: SELBSTVERTEIDIGUNG UND ENTFALTUNG

Das eben entdeckte Ich muss vom Kind ständig ausprobiert und verteidigt werden - auch wenn das in den Augen von Eltern unverhältnismäßig und immer zum falschen Zeitpunkt passiert. Rüdiger Posth rät, sich am Anfang eines "Anfalls" zu entscheiden, ob die Sache es wert ist, auf die elterliche Macht zu bestehen. Er plädiert dafür, weder pauschal alles zu verbieten noch regellos alles gewähren zu lassen, da dies die Orientierungslosigkeit des Kindes zur Folge hätte. Natürlich müssen Kinder im Trotzanfall aus der Gefahrensituation entfernt werden, das aber möglichst sanft. Erklärungen, so Posth, sind immer erst nach einem Anfall sinnvoll, wenn sich die Lage beruhigt hat und die Zeichen auf Versöhnung stehen. Prinzipiell sieht er drei Handlungsoptionen für Eltern: Akzeptanz, Deeskalation und Intervention in Gestalt eines drohenden Blicks, Schimpfens oder der "Auszeit" im Notfall. Versuche, die Situation abzumildern, sind wichtig, denn ungezügelte Machtkämpfe können sich auf das verletzliche Selbst des Kindes, das alles auf die eigene Person bezieht, negativ auswirken. Mit diesem Wissen im Hinterkopf wird es Eltern vielleicht leichter fallen, ihrem trotzenden Kind in der schwierigen Phase der Selbstentfaltung verständnis- und liebevoll gegenüberzutreten.

BUCHTIPP:

VOM URVERTRAUEN ZUM SELBSTVERTRAUEN
Von Rüdiger Posth
Waxmann Verlag 2014
ISBN 978-3-8309-3130-0
Euro 29,90

KINDER VERSTEHEN. BORN TO BE WILD: WIE DIE EVOLUTION UNSERE KINDER PRÄGT
Von Herbert Renz-Polster
Kösel Verlag 2014
ISBN 978-3-407-85847-4
Euro 18,50

BABYJAHRE. ENTWICKLUNG UND ERZIEHUNG IN DEN ERSTEN VIER JAHREN
Von Remo Largo
Piper Verlag 2010
ISBN 978-3-492-25762-6
Euro 15,50

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